Der zypriotische Partner übergibt das Teilnahmezertifikat an Azubi Tom.
Text von Manfred Kasper | Februar 2023
Jugendliche, die noch keinen Ausbildungsplatz in Industrie, Handel und Gewerbe gefunden haben, zu unterstützen, das ist das Ziel der Bildungsgesellschaft mbH Pritzwalk. Sie will Schulabgängern und Schulabgängerinnen sowie Arbeitslosen in der Region eine Perspektive bieten – zum Beispiel durch berufsvorbereitende Maßnahmen. Ein wichtiger Baustein ist dabei der zweiwöchige Auslandsaufenthalt mit Erasmus+ in einer europäischen Partnerinstitution.
„An unseren Projekten nehmen vor allem Jugendliche mit besonderem Förderbedarf teil“, berichtet Simone Grabow, Leiterin des Internationalen Servicebüros in der Bildungsgesellschaft. Sie ist überzeugt, dass derartige Erfahrungen gerade bei dieser Zielgruppe sehr viel bewirken können und sorgt seit nunmehr 15 Jahren für die gute Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen in verschiedenen europäischen Ländern – sei es in Zypern, Italien oder Finnland. Hier können die Jugendlichen zwei Wochen lang Auslandsluft schnuppern und, so Grabow, „für sie völlig neue Arbeits- und Lebenswelten“ kennenlernen.
Vielfältige Gründe für Benachteiligung
Die Gründe für den Förderbedarf und die Benachteiligung der Teilnehmenden sind vielfältig. Sie reichen von Lernbeeinträchtigungen und prekären familiären Verhältnissen bis zu psychischen oder suchtbedingten Erkrankungen. Fast immer fehlt eine ausreichende Unterstützung aus dem Umfeld, sodass sozialpädagogische Hilfen unvermeidbar sind, um die Anforderungen im Rahmen einer Ausbildung erfüllen zu können und den Übergang von der Schule in den Beruf zu bewältigen.
Hier setzen die Angebote der Bildungsgesellschaft an. Dazu Grabow: „Wir wollen den Jugendlichen eine Chance für den Weg in ein selbstständiges Leben und für gesellschaftliche Teilhabe bieten. Dazu ist es wichtig, ihnen Halt und Aufmerksamkeit zu geben. Das steigert das Selbstwertgefühl und schafft einen Rahmen, damit sie eigene Fähigkeiten und Kenntnisse entwickeln können. Neben fachlichen und sprachlichen Kompetenzen geht es in diesem Kontext auch um Aspekte wie Toleranz, Selbstbewusstsein oder Teamgeist.“
Eine bedeutende Rolle spielen die Auslandspraktika, die in Pritzwalk bereits seit mehr als 20 Jahren durchgeführt und stets sehr eng von Ausbildern oder Sozialpädagoginnen begleitet werden. Einer von ihnen ist Tino Gutsche, Ausbilder für Werkzeugmechaniker*innen in der Bildungsgesellschaft. Er war im Oktober 2019 im Rahmen des Projekts „Miteinander lernen – Voneinander Lernen“ mit zehn Auszubildenden – sechs Werkzeugmacher/-innen, vier Elektroniker/-innen – für zwei Wochen bei der Partnerinstitution ERCI – Educational Research & Consultancy Institute in Limassol auf Zypern. Hier arbeiteten die Jugendlichen unter fachkundiger Anleitung in großen Unternehmen wie in einer Brauerei oder bei einem Safthersteller. Sie leisteten hauptsächlich konventionelle Maschinenarbeit, beispielsweise Drehen, Fräsen oder Materialzuschnitt. Für Gutsche war dies die erste Reise in seiner Tätigkeit als Ausbilder, er erinnert sich: „Wir waren alle sehr nervös. Unsere Gruppe kannte sich zum damaligen Zeitpunkt ja auch gerade erst einmal zwei Monate, da es ein Grundprinzip der Auslandsaufenthalte ist, diese zum Anfang der Ausbildung durchzuführen. Das stärkt das Gruppengefühl und zugleich auch das Vertrauen zu mir als Ausbilder.“
Um der benachteiligten Klientel ein derartiges Angebot unterbreiten zu können, sei eine vertraute Person als Ansprechpartner*in unabdingbar, unterstreicht der heute 37-jährige Ausbilder. Er habe sich ein wenig wie der „Papa“ gefühlt, der sich um alles kümmert und den Laden zusammenhält. So könne er dazu beitragen, dass die jungen Leute, die zuvor in der Regel noch nichts Vergleichbares erlebt haben, ihre Ängste verlieren und sich auf die Sache einlassen. Denn trotz intensiver Vorbereitung trauten sich die meisten Teilnehmenden kaum etwas zu. Gutsche wörtlich: „Sie bringen zum Teil heftige Geschichten mit und haben oft Probleme, mit ihrem Alltag klarzukommen. Ich staune immer wieder, wie sich dies in der kurzen Zeit des Auslandsaufenthaltes verändert und welche Fähigkeiten plötzlich sichtbar werden. Da treten Dinge zu Tage, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind.“
Auslandserfahrung als Motivation
Die Effekte aus den Maßnahmen beeindrucken auch Denise Nickel, pädagogische Leiterin in der Bildungsgesellschaft Pritzwalk. Sie sagt: „Wenn unsere Teilnehmer*innen zurückkommen, sind sie regelrecht euphorisch, weil sie tolle Sachen erlebt und sehr viel Wertschätzung erfahren haben, sowohl in der Arbeit als auch im Miteinander. Das erhöht ihre Motivation und macht ihnen nicht selten deutlich, dass sie doch etwas können – eine gute Voraussetzung, um Zugang zu regulären Ausbildungsgängen und einer festen Beschäftigung zu finden.“
Tino Gutsche erzählt abschließend vom Beispiel des 19-jährigen Tom, der so gestärkt aus Zypern zurückgekommen sei, dass er sich selbst eine Firma aussuchte, die er interessant fand. Dort habe er sich dann erfolgreich beworben und den Einstieg ins Arbeitsleben geschafft. Gutsche glaubt, dass die Auslandserfahrung dazu „einen großen Beitrag“ geleistet habe. Vor diesem Hintergrund ist es ein Anliegen der Bildungsgesellschaft Pritzwalk, auch anderen Trägern, die mit einer vergleichbaren Klientel arbeiten, die Möglichkeiten von Erasmus+-Projekten nahezubringen und sie entsprechend zu beraten. Neben den konkreten Erfahrungen vor Ort geht es dabei letztlich allen auch darum, die Ergebnisse des Aufenthalts transparent zu machen, damit die Jugendlichen sich später damit bewerben können.