Text von Manfred Kasper | Februar 2023
Nach Angaben des Fachmagazins „The Lancet Global Health“ lag die Zahl schwer sehbehinderter und blinder Menschen im Jahr 2020 weltweit bei mehr als 300 Millionen. Sie alle stehen vor der besonderen Herausforderung, dass nicht barrierefreie Bilder, Grafiken und Videos im Internet häufig nicht lesbar oder nur über eine gesonderte Bildbeschreibung zugänglich sind. Hier neue Wege zu finden, war Ziel des Projekts DigiLearnBUS (Digitales Lernen für Blinde und Sehbehinderte), das mittels der Erfahrungen eines Lernaufenthaltes in Kroatien Impulse für die Arbeit in Deutschland gab.
Neue Möglichkeiten im Unterricht
Susanne Schumann arbeitet als Trainerin beim Berufsförderungswerk Halle (BFW), einer 1990 gegründeten Spezialeinrichtung, die als modernes, überregional tätiges soziales Dienstleistungsunternehmen vielfältige Bildungsmaßnahmen für die berufliche Neuorientierung blinder und sehbehinderter Erwachsener anbietet. Dabei geht es darum, Menschen, die ihre Berufstätigkeit aufgrund der Sehbeeinträchtigung nicht mehr ausüben können, auf dem Weg der nachhaltigen Reintegration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Das Spektrum reicht von Kaufleuten für Gesundheitswesen, Büromanagement oder Digitalisierungsmanagement bis zu Verwaltungsfachangestellten in allen Altersgruppen.
Seit rund zwei Jahren setzt Schumann auf sensitive digitale Tablets, die nach einem erfolgreichen Erasmus+-Aufenthalt in Kroatien beim BFW eingeführt wurden. Sie ist begeistert von den Möglichkeiten, die dadurch entstanden sind, und schwärmt: „Die Tablets eignen sich hervorragend, um den Zugang zu Informationen im Internet zu optimieren und das selbstbestimmte Lernen zu fördern. Gerade im kaufmännischen Bereich gibt es vielfach Organigramme, Ablaufpläne und Schaubilder, die bislang nur mit konkreter Hilfestellung vermittelbar waren. Mit den Tablets können wir digitalisierte Inhalte nun so aufbereiten, dass die Grafiken eigenständig erfühlt und verstanden werden. Die Umschüler*innen sind somit nicht länger auf die Unterstützung von Assistenten angewiesen.“
Neue Möglichkeiten im Unterricht
Für die Trainerin ist das ein gewaltiger Fortschritt und eine enorme Erleichterung für den Unterricht. Technisch gesehen vibrieren die Tablets, wenn tastbare Punkte auf der Bildschirmoberfläche berührt werden. Ein Beispiel ist die Europakarte. Dort können die Nutzerinnen und Nutzer einzelne Länder und Strukturen ertasten, das Tablet wirft dann automatisch die entsprechenden Texte aus. So werden Grafiken unmittelbar erfahrbar und lesbar – ein gerade bei prüfüngsrelevanten Themen gravierender Vorteil.
Dazu noch einmal Susanne Schumann: „Ich finde es wichtig, dass Digitalisierung immer auch inklusiv ist und für alle Menschen Zugänge schafft. Die Einführung der Tablets im Unterricht des Berufsförderungswerkes ist für mich ein sehr gutes Beispiel für gelungene und nachhaltig wirksame Inklusion“. Die Idee dazu resultiert aus dem Erasmus+-Projekt DigiLearnBUS, in dessen Rahmen von September 2019 bis August 2022 einige Mitarbeitende des Berufsförderungswerk in einer kroatischen Partnerinstitution hospitierten, die ebenfalls blinde und sehbehinderte Menschen ausbildet. Kerstin Kölzner, Geschäftsführerin des BFW Halle, war seinerzeit gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Ulf Gläser in Zagreb.
Beide betonen, wie wichtig der europäische Dialog sei. Kölzner wörtlich: „Wir arbeiten sehr viel mit Einrichtungen im europäischen Ausland zusammen, zum Beispiel in den Niederlanden, in Frankreich, in Island oder Italien, Polen oder Rumänien. So gewinnen wir einen guten Überblick über internationale Ansätze in diesem Bereich, zum Beispiel was die Digitalisierung und daraus resultierende Möglichkeiten für die berufliche Bildung von Blinden und Sehbehinderten betrifft. Das gibt uns viele Impulse für unsere Arbeit. Die Frage, wie es uns gelingt, blinde und sehbehinderte Menschen am besten in den Arbeitsmarkt zu integrieren, stellt sich schließlich in allen Ländern.“
Dialog fördert barrierefreies E-Learning
„Inhaltlich ging es in DigiLearnBUS darum, die Idee des barrierefreien E-Learning voranzubringen und entsprechende Synergien zu nutzen“, ergänzt Dr. Ulf Gläser. Während des Lernaufenthaltes in Kroatien habe man Kontakt zur slowenischen Firma Feelif Pro knüpfen können, die die taktilen digitalen Tablets für den Unterricht von blinden Menschen entwickelt und bereits erfolgreich mit der kroatischen Einrichtung zusammenarbeitete. Gläser weiter: „Wir haben die Idee sozusagen mit nach Halle gebracht, um derartige Angebote auch bei uns zu integrieren.“
Für Kerstin Kölzner hat die daraus resultierende Dynamik alle Erwartungen übertroffen. „Die Tablets sind längst zu einem elementaren Baustein der Ausbildung in den Bereichen IT und Büromanagement geworden. Unsere Absolvent*innen und auch unsere Trainer*innen sind sehr begeistert vom Mehrwert, den sie bieten“. So zeigt der Erasmus+-Aufenthalt auch über das Projektende hinaus seine Wirkung. Hinzu komme, dass auch der Austausch mit der kroatischen Einrichtung weiterhin sehr intensiv sei. Für die Zukunft würde sich Kölzner wünschen, dass der Einsatz derartiger Tablets auch im Berufsalltag stärker Einzug halte, um ein selbstbestimmtes Arbeiten am jeweiligen Arbeitsplatz zu ermöglichen. Dies sei zwar mit Kosten verbunden, letztlich aber gehe es darum, Wege zu finden, die von Menschen gemachten Barrieren in der Berufsbildung soweit wie möglich abzubauen.