Katharina mit dem Wahrzeichen Wiens im Hintergrund: das Wiener Riesenrad (© Katharina Alektorov).
Ausbildung über europäische Grenzen hinweg ist auch für Erzieherinnen und Erzieher sowie für Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger möglich. Katharina Alektorov ist eine von ihnen.
Text von Julia Göhring | Februar 2021
Katharina Alektorov ist etwas mulmig zumute: Sie soll einen kleinen Jungen aus einem Kindergarten abholen, der kurzfristig in einem Krisenzentrum für Kinder und Jugendliche in Wien untergebracht wurde. Es ist Katharinas zweiter Arbeitstag an ihrem neuen Ausbildungsplatz im Krisenzentrum. Dort werden Kinder, die in ihren Familien nicht mehr sicher sind, übergangsweise für sechs Wochen aufgenommen, bis eine Lösung für sie gefunden wird. Katharina ist selbst erst seit wenigen Tagen in Wien. In Diez, der Stadt an der Lahn in Deutschland, in der Katharina sonst lebt, gibt es weder U- noch Straßenbahnen. Wird sie sich zurechtfinden im Verkehrsnetz der Großstadt, um ein verunsichertes Kind sicher in das Krisenzentrum zurück zu begleiten?
Aber alles geht gut. „Ich war positiv überrascht, wie unkompliziert der öffentliche Verkehr in dieser Riesenstadt funktioniert“, so Katharina. Auch der Kontakt zu dem Jungen gelingt ihr, so dass er vertrauensvoll mit zurück in das Krisenzentrum kommt. Insgesamt sechs Monate ihres berufspraktischen Jahres in der Ausbildung zur Erzieherin hat die 23-jährige Katharina von August 2019 bis Januar 2020 in Wien absolviert. Einen Teil der Ausbildung im Ausland zu machen, ist bislang eher ungewöhnlich für Erzieherinnen und Erzieher. Dass es Katharina möglich war, verdankt sie dem Erasmus+-Projekt der Adolf-Reichwein-Schule Limburg (ARS), einer Beruflichen Schule, an der sie ihre Ausbildung gemacht hat. Sechs Auszubildende zur Erzieherin/zum Erzieher oder zur Heilerziehungspflegerin/zum Heilerziehungspfleger hat die ARS zwischen 2018 und 2020 dabei unterstützt, die Hälfte ihres berufspraktischen Jahres im europäischen Ausland zu machen.
Europäische Kontakte bilden die Basis
Seit 2006 pflegt die Schule Kontakte zu Austausch-Partnern in ganz Europa, unterstützt von Erasmus+, berichtet Thomas Höltken, Lehrer im Fachbereich Sozialwesen an der Adolf-Reichwein-Schule. Zusammen mit seinem Kollegen Dirk Spilling ist er seit 2014 für die Organisation der Auslandsaufenthalte der angehenden Erzieherinnen und Erzieher sowie der Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger verantwortlich. Bislang gab es Kooperationen mit Schulen in über zehn unterschiedlichen Ländern von England und Schweden über Rumänien bis zu Österreich. Machen die Auszubildenden während ihrer Schulzeit ein Auslandspraktikum, so bleiben sie in der Regel fünf Wochen, im berufspraktischen Jahr fördert Erasmus+ sogar einen sechsmonatigen Aufenthalt. Insgesamt haben 40 Auszubildende zwischen 2018 und 2020 diese Möglichkeiten genutzt.
Praktische Kompetenzen erwerben
„In die Schule oder den Kindergarten bringen, kochen, Hausaufgaben erledigen, Hygiene – die Kinder im Krisenzentrum habe ich im gesamten Alltag begleitet“, erklärt Katharina. „Hinzu kamen Krisengespräche im Team“, berichtet sie, „mir wurden von Anfang an viele Aufgaben und Verantwortung übertragen, dafür bin ich dankbar“, unterstreicht Katharina. Insgesamt bietet das Krisenzentrum Lebensraum für acht Kinder zwischen drei und fünfzehn Jahren, „jedoch gab es auch Tage, an denen wir bis zu zwölf Kinder und Jugendliche im Krisenzentrum hatten“, berichtet Katharina. Dass sie als vollwertiges Mitglied des jungen Teams eingesetzt wurde, war einer der Vorteile davon, dass sie insgesamt ein halbes Jahr in der Einrichtung gearbeitet hat – ausreichend Zeit, sich in Abläufe und Strukturen einzufinden. „Einiges hatte ich natürlich in der Schule gelernt über Erziehungshilfen, vieles habe ich aber auch intuitiv gemacht.“
Komfortzone verlassen und neue Erfahrungen machen
„Rauskommen – für manche ist es das erste Mal –, verschiedene Dinge alleine regeln müssen“, löse bei vielen Auszubildenden „einen Persönlichkeitsschub aus, der den Geist öffnet“, so Höltken. Katharina kann das bestätigen:
„Raus aus der Komfortzone, das war spannend – bis dahin hatte ich bei meinen Eltern gelebt.“
In Wien lebt sie nacheinander in zwei verschiedenen WGs, erkundet die Stadt in ihrer Freizeit mit ihren Mitbewohnerinnen per Bus und Bahn. „Ich habe viel gelernt, auch einmal spontan etwas umzuplanen.“ Katharina, deren Familie russische Wurzeln hat, war zudem begeistert, wie viele verschiedene Menschen aus verschiedenen Ländern in Wien leben.
Persönliche Fähigkeiten entwickeln und Wissen erweitern
Die Kontakte der Schule ins Ausland waren einer der Gründe für Katharina, sich für die Ausbildung an der ARS und nicht an einer anderen Schule zu entscheiden. Auch Thomas Höltken ist sich sicher, dass die Auslandspraktika die Ausbildung an der ARS attraktiv machen.
„Wie machen wir es bei uns, wie machen die es dort?“
Die Auszubildenden würden durch den Vergleich positiv angeregt, ihren Beruf und ihr Wissen zu reflektieren, so Höltken. „In Schweden zum Beispiel gibt es viele Parallelen zu kindlicher Früherziehung in Deutschland, in England aber ruft die eine oder andere pädagogische Aktion vielleicht Fragezeichen hervor,“ so Höltken.
Zudem erfahren die Auszubildenden zum Beispiel, dass die Tätigkeit, die der eines Erziehers oder einer Erzieherin in Deutschland nahekommt, in England ein Studienberuf ist. Auch Sprachkompetenzen würden trainiert, insbesondere bei einem Austausch in englischsprachige Länder. All dies sei auch von Vorteil für künftige Bewerbungen. Ein Auslandsaufenthalt signalisiere potentiellen Arbeitgebenden „ich kann das, ich traue mir etwas zu.“ Nicht zuletzt sind die europäischen Kontakte auch für Höltken und seinem Team wichtig: „Der Austausch ist nicht nur zwischenmenschlich ein großer Gewinn!“
Das zweite Halbjahr ihrer berufspraktischen Ausbildung hat Katharina in einer Dorf-Kita in Flacht an der Aar gemacht. Dort ist sie jetzt auch als Erzieherin angestellt, die Arbeit macht ihr Spaß. Aber noch einmal im Ausland zu arbeiten, um Neues kennenzulernen – das kann sie sich auch für die Zukunft sehr gut vorstellen..