Alphabetisierung: Neue Ideen aus Dublin nach Thüringen - Bildungsmanagerin Angelika Mede kämpft für den Spracherwerb
Manchmal braucht selbst eine gestandene Bildungsmanagerin wie Angelika Mede ein bisschen Hilfe, um etwas Neues auszuprobieren: den Fernbus von Jena zum Flughafen nach Berlin hat ihr der Schwiegersohn über das Internet gebucht. Von dort aus will Angelika Mede für eine Hospitation nach Dublin fliegen. Im beruflichen Alltag ist normalerweise sie es, die anderen unter die Arme greift. Angelika Mede ist Fachreferentin für Alphabetisierung und Grundbildung beim Thüringer Volkshochschulverband e. V. in Jena.
In Dublin will sich Angelika Mede darüber informieren, wie die irischen Kolleginnen und Kollegen bei der National Adult Literacy Agency, kurz NALA, das Thema Alphabetisierung angehen. Denn für die 23 Volkshochschulen in Thüringen ist Angelika Mede die zentrale Ansprechpartnerin zum Thema, studiert Gesetze, beantragt Fördermittel, plant Fortbildungen, berät Kursleiter, organisiert Austausch und Tagungen und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit.
Juli 2017, von Julia Göhring
Tätigkeiten wie ihre sind für die Zielgruppe der Volkshochschulen im Bereich Alphabetisierung undenkbar. Etwa 200.000 erwachsene Menschen in Thüringen können nur einzelne Sätze und Wörter lesen oder schreiben. Damit gelten sie als funktionale Analphabeten. Insgesamt sind in Deutschland etwa 7,5 Millionen Menschen betroffen. Ihre Teilhabe am sozialen und beruflichen Alltag ist oft eingeschränkt. „Diese Menschen wissen nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn bereits einfachste Beschäftigungen im Alltag, wie zum Beispiel das Lesen von Gebrauchsanweisungen, das Ausfüllen von Formularen oder das Errechnen von Mengen nur mit großen Anstrengungen gelingen oder nicht möglich sind“, heißt es in einer Broschüre, die der Verband herausgibt.
Wie gewinnt man Menschen, die wenig lesen und schreiben können, für Kurse?
2016 ist in Deutschland die Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung ausgerufen worden. Die Volkshochschulen stehen dabei mit an vorderster Front – sie haben unter anderem den Auftrag, Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, dabei zu unterstützen, diese Fähigkeiten auszubauen. Dabei müssen Angelika Mede und ihre Kollegen und Kolleginnen Antworten auf viele schwierige Fragen finden. Die vielleicht wichtigste: Wie kann man diese Menschen erreichen und zum Lernen motivieren?
Denn weil sich die Betroffenen schämen, verstecken sie ihre Mängel, anstatt sich um Hilfe zu bemühen. „Deshalb ist Aufklärung so wichtig“, unterstreicht Angelika Mede. Nur wenn die Fallmanagerin im Jobcenter oder der Personaler im Betrieb weiß, dass Äußerungen wie „Ich nehme das Formular mit nach Hause“ oder „Ich kann das nicht lesen, die Schrift ist zu klein“ ein Hinweis auf Analphabetismus seien kann, kann er oder sie vorsichtig Hilfe anbieten und auf Angebote der Volkshochschulen hinweisen.
Alphabetisierung ist nicht nur in Zuwanderer-Gesellschaften ein wichtiges Thema
Von der Internationalität Dublins ist Angelika Mede direkt begeistert. An ihrem ersten Tag in Irland erscheinen die Straßen blau-rot-weiß, nicht grün-weiß-orange. Die Menschen in Dublin, die die französische Trikolore auf einer Demonstration tragen, zeigen so ihre Solidarität mit dem schrecklichen Anschlag von Paris. „Dort demonstrierten junge Leute aus allen möglichen Ländern, es hat mich sehr beeindruckt, wie mitfühlend sie waren. In Dublin gibt es sehr viele Zugewanderte, internationale Studenten und Beschäftigte.“
Untergekommen ist Angelika Mede in „Paddy´s House“, einem Hostel. Zusammen mit den anderen internationalen Gästen kocht sie dort fast jeden Abend. „Das war viel besser als in einem Hotel, dort waren fast alle Nationen vertreten. Und so musste ich immer Englisch sprechen, das war gut, um die Sprache zu üben."
Natürlich zählen in Dublin ebenso wie in Thüringen auch Zugewanderte zu denen, die mit Kursen zur Verbesserung der Lese- und Schreibkenntnisse erreicht werden sollen. Angelika Mede aber weiß: Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können trifft man in vielen Bevölkerungsschichten an. Denn eine mangelnde Grundbildung kann so unterschiedliche Ursachen haben wie zum Beispiel eine lange Krankheit in der Kindheit, fehlende Unterstützung der Eltern oder Mobbing in der Schule.
Flexibles und individuelles Lernen stärkt die Motivation
Im deutschen System, erklärt Angelika Mede, müsse man aber immer erst herausfinden, wer im konkreten Fall für einen Hilfesuchenden zuständig sei: „Wo kommst du her, was trifft auf Dich zu, wo kannst Du zum Lernen hingehen?“ Schließlich müssten alle Maßnahmen finanziert werden und je nachdem, ob sich jemand an sein Jobcenter oder die Volkshochschule wendet, greifen unterschiedliche Programme.
Da haben es die Kollegen an der NALA einfacher; sie agieren zentral und sind Ansprechpartner für alle Menschen, die betroffen sind. Die NALA konzentriert sich bei der Alphabetisierung und Grundbildung auf fünf Bereiche: Teilhabe am öffentlichen Verkehr, an Bildung, im Familienleben, bei der Arbeit und in Gesundheitsfragen.
Dabei geht die NALA auch ungewöhnliche Wege. „Das hat mich sehr fasziniert, es gibt dort Lernen am Telefon“, berichtet Angelika Mede. Hilfesuchende können bei einer Hotline anrufen und dort nicht nur Beratung und Verständnis erhalten, sondern auch zum individuellen Lernen am Telefon weitervermittelt werden. Dazu verschicken die NALA-Mitarbeiter meistens zunächst postalisch Unterlagen an die Teilnehmenden. Eine DVD, auf der Betroffene von ihren Erfahrungen berichten und das Programm mündlich erklärt wird, hilft beim Einstieg – mit reinen Texten hätten die Betroffenen schließlich Schwierigkeiten.
Um die Hemmschwellen noch weiter zu senken, bietet das Programm maximale Flexibilität. „Wenn einer angibt, er habe wöchentlich nur an einem bestimmten Tag zwischen 20 und 21 Uhr Zeit, dann wird er um diese Zeit von einen Betreuer angerufen, der mit ihm übt.“ Auf der Online-Plattform writeon.ie der NALA gibt es weitere betreute Kurse. Die NALA jedenfalls macht gute Erfahrungen mit diesen Fernlern-Angeboten.
Der fachliche Austausch und der Kontakt mit den europäischen Kolleginnen und Kollegen sei sehr bereichernd gewesen, bekräftigt Angelika Mede. Und auch in Thüringen konnten sie und ihre Mitstreiterinnen und – streiter in den letzten Jahren schon viel erreichen. So gibt es zum Beispiel seit 2010 die Alpha-Initiative der Thüringer Volkshochschulen. Hier werden über Fördermittel des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) an allen 23 VHS Kurse angeboten und durchgeführt. Bei Bedarf startet der „Kurs“ bereits ab einem Teilnehmenden, so dass eine individuelle 1:1 Betreuung möglich wird und kein Lernwilliger mehr warten muss, bis sich genug andere Teilnehmer finden.
„Aber Lernen am Telefon“, sinniert Angelika Mede, „auch bei uns – das arbeitet immer noch in mir!“