„Einmal die ganzen Emotionen am eigenen Leib erfahren“ - Neue Impulse aus Island für die Arbeit mit Geflüchteten
Lena Spiegelberg koordiniert Integrations- und Alphabetisierungskurse für Geflüchtete beim BildungsForum Lernwelten in Bonn. Um in der Kursplanung und –beratung besser auf die Bedürfnisse ihrer Klientinnen und Klienten eingehen zu können, hat sie an einem interkulturellen Sensibilisierungs-Training bei InterCultural Iceland teilgenommen.
Mai 2019
Vor Lena Spiegelberg liegt ein isländisches Einwanderungsformular, das sie ausfüllen soll. Jetzt sofort und zügig bitte. Die Frau, die es ihr ausgehändigt hat, ist streng und wenig hilfsbereit. Lena Spiegelberg weiß nicht, wie sie die Aufgabe bewältigen, was genau sie an welcher Stelle eintragen soll, schließlich versteht sie kein Isländisch. Ein überwältigendes Gefühl von Hilflosigkeit macht sich in ihr breit.
Für Lena Spiegelberg ist diese schwierige Situation zum Glück nur Teil eines Rollenspiels in einem interkulturellen Sensibilisierungs-Training. Aber viele der Menschen, die Lena Spiegelberg in ihrer Tätigkeit als Koordinatorin für Integrationskurse und Alphabetisierung berät, machen ähnlich frustrierende Erfahrungen fast jeden Tag.
Einfühlen in die Anderen
„Einmal die ganzen Emotionen am eigenen Leib erfahren“, denen ihre Klienten und Klientinnen mit Flucht- und Migrationserfahrung ausgesetzt sind, sei eine wichtige Lern-Erfahrung, erzählt Lena Spiegelberg. Um an dem Training bei Gudrun Petursdottir, einer international anerkannten Expertin für interkulturelle Kompetenz, teilzunehmen, ist sie mit zwei Kolleginnen ins isländische Städtchen Borganes gereist. Die Reise und das Training wird durch das Erasmus+-Projekt „Sensibilisierung und Kompetenzerweiterung für Bildungspersonal im Bereich der Arbeit mit geflüchteten Menschen“ ermöglicht.
Es regnet, als Lena Spiegelberg und ihre Kolleginnen in Borganes ankommen, am nächsten Tag tobt sogar ein Schneesturm. Und auch das Training wirbelt so manches durcheinander. „Was ist eigentlich Kultur? Was gehört alles dazu?“, fragt Kursleiterin Gudrun Petursdottir zum Einstieg. Und hakt bei jeder Antwort nach: „Ist das alles? Gilt das für alle?“. „Es gibt für jede und jeden nur eine jeweils individuelle Kultur“, wird Lena Spiegelberg und den anderen Teilnehmenden aus Schweden, Polen, Spanien und Deutschland schnell bewusst.
Am eigenen Leib erfahren wie Vorurteile wirken
„Clumsy“, also „tollpatschig, ungeschickt“ prangt auf einem Sticker an Lena Spiegelbergs Stirn. Auch die anderen Teilnehmenden tragen Charakter-Zuweisungen auf der Stirn, etwa „faul“ oder „sehr entspannt“, als sie ein Projekt diskutieren sollen. Wie fühlt sich Diskriminierung oder Rassismus an? Durch die Äußerungen der anderen sollen die Teilnehmenden herauszufinden, welches Stereotyp auf ihrer Stirn klebt. „Das hat tatsächlich sehr gut funktioniert“, berichtet Lena Spiegelberg, „zudem war interessant, wie sich die Gesprächsdynamik in der Gruppe aufgrund der zugeschriebenen Eigenschaften entwickelt hat, wie manche plötzlich abgewürgt oder ausgeschlossen wurden. So hat man erfahren, was passiert, wenn man bestimmte Labels für Menschen im Kopf hat.“
Erkennen, was das Lernen erschweren kann
In einer anderen Übung nehmen die Teilnehmenden verschiedene Rollen ein, etwa die einer alleinerziehenden Mutter. „Wäre es leicht für dich, jetzt ein Studium zu beginnen?“, fragt Gudrun Petursdottir die Teilnehmenden in ihren Rollen. „Dann trete einen Schritt vor“, ergänzt sie. Es zeigt sich: Einige müssen stehen bleiben. „Wenn wir den Lernerfolg von Teilnehmenden unserer Kurse beurteilen, haben wir bislang vieles nur durch die `Defizitbrille´ gesehen“, erkennt Lena Spiegelberg. Durch das Training habe sie gelernt, was auch wichtig sei: „Zuhören, offener sein, verständnisvoller, von den Tatsachen ausgehen. Gerade in den Alphabetisierungs-Kursen sind sehr viele Bildungsferne. Manche Teilnehmende sind vielleicht nie in die Schule gegangen. Und wie ist der sonstige Hintergrund? Sind zum Beispiel die Kinder betreut?“
Individuell ermutigen und unterstützen
Diese Erkenntnis hat Lena Spiegelberg auch an die Kursleitenden weitergegeben. Gemeinsam versuchen sie, die Teilnehmenden der Integrations- und Alphabetisierungskurse noch stärker zu ermutigen. „Wenn jemand von seinem Lerntempo frustriert ist, auch zu zeigen, wie viel er oder sie schon geschafft hat“, bekräftigt Lena Spiegelberg die Strategie. Und gleichzeitig „müssen wir uns auch fragen, warum wir etwa von jemanden, der nie zur Schule gegangen ist, erwarten, in zwei Jahren das zu schaffen, wofür unsere Schulkinder viele Jahre brauchen.“
Mitgebracht aus Island hat sie auch Methoden des kooperativen Lernens, etwa Aufgaben in einem Team immer wieder neu zu verteilen, damit alle einmal jede Rolle einnehmen können. Und Lena Spiegelberg und ihre Kolleginnen haben noch in Island damit begonnen, einen Workshop für die interkulturelle Sensibilisierung ihres Teams in Bonn zu konzipieren, um bei nächster Gelegenheit Methoden und Erfahrungen zu teilen. Vielleicht also werden ihre Kolleginnen und Kollegen schon bald auch über einem Einwanderungsformular in einer fremden Sprache schwitzen.
Mai 2019, Julia Göhring