Lesen und Schreiben lernen mit WhatsApp & Co - Internationalisierung der Erwachsenenbildung
Lesen und Schreiben auf Deutsch ist für viele Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten schwer. Sara Meiers vom Bildungsträger interKultur e.V. in Bonn hat schon länger darüber nachgedacht, wie der Schrift- und Spracherwerb ihrer Teilnehmenden leichter gelingen kann. Nach dem Austausch mit europäischen Partnerschulen in Graz und Verona weiß sie: Digitale Medien kann man auch in die Alphabetisierung viel stärker einbeziehen als hierzulande bisher üblich.
Von Christina Budde, Dezember 2022
Lockdown in Corona-Zeiten, der Präsenzunterricht kann nicht stattfinden: Sara Meiers, Dozentin für Alphabetisierungskurse in Bonn, überlegt, wie sie es schaffen kann, den Kontakt zu ihren Teilnehmerinnen beim mühsamen Deutschlernen nicht abbrechen zu lassen. Lösung: Die WhatsApp-Gruppe des Alphabetisierungskurses für den Unterricht nutzen. Zwar müssen sich in vielen Familien Kinder und Eltern ein Handy oder ein Tablet teilen, aber zumindest für eine Stunde am Tag können auch die meisten „Alpha-Frauen“, wie sie ihre Teilnehmerinnen liebevoll nennt, das Medium nutzen. „Wie geht es Ihnen?“ war häufig die erste Frage, die die Frauen schriftlich im Chat beantworten sollten. Per Sprach- oder Textfunktion wurden dann Aufgaben aus den Lehrbüchern gestellt. Von gelösten Aufgaben schickten die Teilnehmerinnen ein Foto und bekamen die Korrekturen ebenso per Foto zurück. „Die Frauen waren froh, nicht völlig abgehängt zu sein“, sagt Sara Meiers.
„Die Österreicher setzen schon lange digitale Medien im Alpha-Unterricht ein.“
„Alles, was wir im ersten Lockdown 2020 gemacht haben, habe ich mir selbst ausgedacht“, sagt Sara Meiers. Umso mehr freute sich die Bonnerin, dass sie als Teilnehmerin von Erasmus+ zunächst nach Graz zur Sprachschule Danaida e.V. fahren und danach einen internationalen Austausch in Verona zum Thema machen konnte. „Die Grazer haben ähnlich angefangen wie ich“, erzählt sie, „sind jetzt aber schon viel weiter“. Die Bildungsarbeit mit Migrantinnen und Migranten sei in Österreich ohnehin viel lockerer und unterliege weniger Auflagen als in Deutschland. Exkursionen wie etwa ein Stadtspaziergang zum Grazer Landhaus, das gleichzeitig Landesmuseum und Parlament ist, befördere das Sprachenlernen im „echten“ alltäglichen Raum und könne auch zu Wortschatz- und Grammatikübungen genutzt werden. Berufspraktika ab Niveau A2 seien die Regel, wovon „wir hier nur träumen können“, so Meiers. Im Alpha-Unterricht würden oft und vielfältig Medien wie Apps und Messenger-Dienste oder Videos eingesetzt. Dafür benutzten die Teilnehmerinnen ihr Smartphone.
Alles lässt sich digital verarbeiten und im Unterricht einsetzen
Sara Meiers‘ Ideen sprudeln seit der Hospitation in der Steiermark noch mehr als vorher. „Im Hof des Landhauses steht beispielsweise eine Teufelsskulptur. Man könnte ein Video davon erstellen und mit Grammatikfragen unterlegen: Liegt der Teufel, sitzt oder steht er? Schnell lassen sich dann auf amüsante Weise Verben durchkonjugieren“. Alle wichtigen Wiederholungsübungen, die im Unterricht viel Zeit fressen, wären per Video oder Audio gut nach Hause zu verlegen.
Ganz konkret hat Sara Meiers für ihren Unterricht mitgenommen, dass sich die Grundschul-App „Anton“ gut eignet, den Spracherwerb zu fördern. Auf spielerische Weise beschäftigten sich die Teilnehmerinnen mithilfe der App eigenständig damit, alle Wörter zu lernen, die beispielsweise zu den Oberbegriffen Früchte oder Gemüse gehören. „Den Frauen macht es Spaß und sie begreifen auch als Sprachanfängerinnen schnell“, sagt Meiers. Ein Vorteil sei zudem, dass auch stillere und langsamere Teilnehmerinnen auf individuelle Weise lernen könnten. Allerdings müsse auch die Technik stimmen. „Einmal vormachen auf dem Smartboard ist besser als wenn jede allein vor sich hin wurschtelt“, so Meiers.
Spracherwerb ist Vorrausetzung für Integration
Die Frauen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak in Sara Meiers‘ Alpha-Kursen wünschten sich alle mehr Kontakt zur deutschen Bevölkerung. „Sie trauen sich mit ihren wenigen Sprachkenntnissen aber nicht“, sagt Sara Meiers. Digitale Mittel wie Videos könnten helfen, Situationen besser einzuschätzen und an ihnen zu üben. Das gebe Sicherheit, sich auch im „wirklichen Leben“ in diese Situationen zu trauen.
Techniken und Tools für das Blended Learning
Viele weitere digitale Techniken hat Sara Meiers in einem europäischen Austausch mit Bildungspartnern aus Spanien und Bulgarien in Verona kennengelernt. Neben unaufwändigen Apps wie „answergarden.ch“ war für sie das Lernkonzept „Flipped classroom“ spannend: Alles an Lehrstoff, der sich dafür eignet, wird per Video nach Hause verlagert: repetitive Aufgaben etwa oder das Lesen von Texten. Die Videos lassen sich mit einfachen digitalen Tools selbst bedarfsgerecht erstellen oder bearbeiten. „Es bleibt dann im Unterricht mehr Zeit für Input oder den Transfer des Gelernten auf andere Zusammenhänge“, so Meiers. Sie überlegt zu testen, inwieweit Mütter und Kleinkinder aus ihrem eigenen Unterricht zusammen solche Sprachvideos zu Hause anschauen und anschließend auch gemeinsam üben könnten.
Ein Füllhorn an Ideen
Angefüllt mit Anregungen ist Sara Meiers auch aus Verona nach Bonn zurückgekehrt. Nicht nur die vielen digitalen Tools waren interessant, sondern auch der Austausch über Lernkonzepte mit den europäischen Partnern. „Die spanischen Kolleginnen und Kollegen von den Sprachschulen aus Ibiza und Andalusien beispielsweise fragen die Teilnehmenden viel stärker als wir nach der Relevanz des Unterrichtsstoffs für deren Alltag und Erfahrungshorizont“, so Meiers. So vieles von dem beim Austausch Gehörten könnte in Meiers Alphabetisierungsunterricht eingesetzt werden. „Wenn ich alle Infos und Eindrücke nacharbeiten will, brauche ich eine Woche Urlaub“, sagt die Bonnerin.