„Es funktioniert nur mit den Menschen – niemals über ihre Köpfe hinweg.“ - Das Erasmus+ Projekt „A new ENTRance“entwickelt Existenzgründungskurse für Roma.
Roma gründen Start-ups: Europäische Projektpartnerinnen und -partner aus Rumänien, Ungarn, Griechenland und Deutschland haben gemeinsam die ersten Existenzgründungskurse speziell für Roma entwickelt. Das Erasmus+-Projekt „A new ENTRance“ ist ein Lehrstück in Sachen Orientierung an dem, was die Teilnehmenden brauchen und zeigt Erfolg: Über 200 Roma haben inzwischen den Kurs absolviert und können nun ein eigenes kleines Unternehmen gründen.
Aus der größten Roma-Community in Buzău, Rumänien, kommt Anca Calin. Die dreißigjährige junge Mutter ist mutig. Ohne Mut wäre sie wohl niemals in den Kurs für Existenzgründer und -gründerinnen gegangen, hätte nicht gelernt, was ein Business-Plan ist, was Steuerrecht bedeutet oder was es heißt, ein „Alleinstellungsmerkmal“ auf dem Markt zu entwickeln. Und erst recht hätte sie nicht gewagt, ein eigenes Start-up-Unternehmen zu gründen, sich Geld zu leihen, um die Produktionsstätte einzurichten und Verantwortung für zwei Mitarbeiterinnen zu übernehmen. Ab Oktober produziert das kleine Unternehmen bezahlbare Kinderkleidung in guter Qualität. Es trägt ihren Namen: ANCA.
„Der Existenzgründungskurs hat mich motiviert und den Mut in mir wach gekitzelt“, sagt Anca Calin. „Mir ist klar geworden, dass es trotz allem einfacher ist, sich selbständig zu machen als einen angestellten Job zu suchen.“ Dass es überhaupt dazu kam, dass Anca Calin den Existenzgründungskurs besuchte, ist auch Iosif Calin, ihrem Schwiegervater, zu verdanken. Der Ehrenbürger von Buzău ist selbst ein Roma und mit dem Verein Vox Civica Partner der strategischen Partnerschaft „A new ENTRance“ im EU-Programm Erasmus+. Unermüdlich hat er in seiner Community informiert und unzählige persönliche Gespräche in Roma-Familien geführt, um für den Kurs zu werben. Inzwischen ist der Experte in Business-Fragen auch Ancas Business-Partner, weil er „an den Erfolg des kleinen Start-ups“ glaubt, wie er sagt.
Existenzgründung: für Roma ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit
Mehr als die Hälfte der geschätzten sechs Millionen Roma in der EU leben in den Partnerländern des Projektes „A new ENTRance“ in Rumänien, Griechenland, Ungarn und Deutschland. Ihr Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt ist schlecht, Armut und soziale Ausgrenzung sind hoch. Viele Roma sind jedoch bereit, sich selbständig zu machen, vor allem in traditionellen Tätigkeiten wie dem Handel etwa von Obst und Gemüse oder Kleidung oder im Handwerk. „Dafür brauchen sie das Einmaleins der Existenzgründung“, sagt Ronald Schönknecht vom Verein JugendStil e.V., der das Erasmus+-Projekt koordiniert hat.
Roma haben spezielle Bedarfe
Schönknecht und seine Kollegen aus den Partnerorganisationen arbeiten schon lange mit Menschen aus der Roma-Minderheit. Sie wissen deshalb: es geht nur mit ihnen und nicht über ihre Köpfe hinweg. Roma werden oft ausgeschlossen und haben ein tiefes Misstrauen gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung. „Es braucht viel Geduld, um ihr Vertrauen zu gewinnen“, sagt Schönknecht. Die enge Zusammenarbeit mit Roma-Vertretern wie Iosif Calin, die selbst gut in ihren Communities vor Ort verankert sind, ist deshalb unerlässlich.
Die besonderen Bedarfe der Roma haben Schönknecht und seine europäischen Partnerinnen und Partner auch in dem umfangreichen Curriculum berücksichtigt, das den Existenzgründungskursen zugrunde liegt: die fachlichen Lehreinheiten sind so verständlich wie möglich dargestellt, Beispiele stammen aus dem Roma-Umfeld, das Trainingsmaterial ist auf Romanes, der Sprache der Roma, übersetzt worden. Als Kurs-Trainerinnen und -Trainer werden bevorzugt Roma eingesetzt oder zumindest Mediatorinnen und Mediatoren, die mit der Zielgruppe vertraut sind und die Inhalte auf Romanes vermitteln können. Curriculum und Kurse sind eigens in einer vorgelagerten Testphase gemeinsam mit Roma auf Herz und Nieren überprüft und nochmals angepasst worden.
Eigne ich mich für die Existenzgründung?
Die europäischen Partnerinnen und Partner haben zudem ein benutzerfreundliches Selbsteinschätzungstool entwickelt, mit dem Interessierte vor Beginn des Kurses online überprüfen können, ob sie sich als Existenzgründerinnen oder -gründer eignen. Es gibt potenziellen Kursteilnehmenden Orientierung und verhindert, dass sie erst während des Kurses feststellen, dass es doch nicht für sie passt.
„It should be tasty“: Lernen muss schmackhaft sein
Viele Roma verbinden mit „Schule“ und „Lernen“ schlechte Erfahrungen. Auch deshalb ist es wichtig, Vertreter der Roma-Community wie Iosif Calin zu gewinnen, die in den Familien persönlich vorsichtige Überzeugungsarbeit leisten. Ohne die Familie geht gar nichts, doch es wird bei Kaffee und Kuchen auch einfühlsam nach Momenten gesucht, in denen das Lernen vielleicht doch ein wenig Spaß gemacht hat oder zumindest der Lehrer nett war.
Das dauert lange und ist doch der „werthaltigste Weg“, wie Koordinator Schönknecht weiß. Das Lernen selbst muss dann so praktisch wie möglich sein, der Unterricht lebendig und auch einmal außerhalb des Kursraumes stattfinden, denn „Roma sitzen nicht acht Stunden auf einem Stuhl“, so Schönknecht.
Die Herausforderungen bleiben groß
Wie alle Teilnehmenden steht auch Gründerin Anca Calin nach Kursabschluss immer noch vor der Herausforderung, sich auf dem Markt gegenüber der Konkurrenz zu behaupten. Doch sie hat das Handwerkszeug dafür bekommen und glaubt fest daran, dass sich ihr kleines Unternehmen entwickeln wird, auch wenn es jetzt erst einmal nur zum Überleben reicht.
Auf dem Arbeitsmarkt anerkannt – und nicht nur dort.
In allen vier Ländern sind die Existenzgründungskurse durch die zuständigen Industrie-und Handelskammern zertifiziert und werden auf dem Arbeitsmarkt anerkannt. Für Ronald Schönknecht aber, den unermüdlichen Kämpfer für die Inklusion von Roma, zeigt das Vertrauen der Roma, dass der eingeschlagene Weg richtig ist: „Wenn mich der Präsident einer Roma-Selbstverwaltung in Ungarn nach acht Jahren Zusammenarbeit zum ersten Mal privat in sein Haus einlädt, dann weiß ich, dass es sich lohnt, dranzubleiben“, sagt Schönknecht.
Dezember 2019, Christina Budde